Wem helfen eigentlich Hilfen?
Wem helfen eigentlich Hilfen? Dem Reiter oder dem Pferd? In diesem Bog-Eintrag möchte ich die Gewichts-, Schenkel- und Zügelhilfen einmal unter einem anderen Blickwinkel als üblich betrachten.
Z. B. die Schenkelhilfe: Um ein Pferd zum Antreten zu veranlassen, soll laut Reglement der Reiter die Schenkel kurz hinter dem Sattelgurt anlegen. Ob das Pferd darauf reagiert, hängt allerdings davon ab, ob es die Bedeutung des Schenkels kennt, also gelernt und trainiert hat. Auch wenn man immer wieder lesen kann, dass durch den Schenkelimpuls Bauchmuskeln (gemeint sind die schrägen Bauchmuskeln – andere Muskeln befinden sich außerhalb der Reichweite des Schenkels) aktiviert werden würden, die dann ein Hinterbein zum Vortreten veranlassen würde: es ist Unsinn. Das Anlegen der Schenkel ist alles andere als eine Hilfe, denn es geht ausschließlich darum, ein konditioniertes, also erlerntes Verhalten abzurufen. Einen natürlichen Zusammenhang von Schenkel und Antreten gibt es nicht. Und wenn die Schenkelhilfe jemanden hilft, dann dem Reiter und nicht dem Pferd.
Das trifft auch auf die Zügelhilfen (weitgehend) zu: Nachdem ein Pferd im Maul keine Schalter hat, ist z. B. die verhaltende Zügelhilfe ebenfalls konditioniert. Man kann ein Pferd durch Zug am Zügel nicht anhalten, man kann ihm nur Schmerzen im Maul zufügen und darauf hoffen, dass das Pferd vor dem Schmerz zurückweicht. In der Regel allerdings „lehnen sich Pferde in den Schmerz“ (J.-C. Racinet) – heißt: sie „gehen gegen die Hilfe“.
Eine andere Situation: Wenn ich beim Reiten abwenden möchte, werde ich meine Balance in die Richtung verlagern, in die ich abwenden will. Nicht umfallen zu wollen und in einem natürlichen, kraftsparenden Gleichgewicht bleiben zu wollen muss ein Pferd nicht lernen. In diesem Fall helfe ich meinem Pferd tatsächlich, ich unterstütze sein natürliches Verhalten, das stabile Gleichgewicht durch das Abwenden wieder herzustellen.
Es gibt offensichtlich zwei Arten von Hilfen: Auf der einen Seite besteht der Sinn der Hilfe tatsächlich darin, dem Pferd zu helfen eine Lektion auszuführen, auf der anderen Seite ist eine Hilfe einfach ein Kommando, dem das Pferd zu gehorchen hat. Beide Hilfen haben unterschiedliche Voraussetzungen und müssen unterschiedlich betrachtet und geschult werden: Die konditionierte Hilfe muss das Pferd erst lernen und es kann sie natürlich auch wieder verlernen, weshalb der Reiter sehr diszipliniert damit umgehen muss. Er muss wissen, wie die Technik der Konditionierung funktioniert und wie er damit umgehen muss. Dagegen braucht die natürliche (Balace-) Hilfe ein „durchlässiges“, also entspanntes Pferdes. Einmal geht es um Disziplin, das andere Mal um Wahrnehmen und Fühlen.
Der Unterschied liegt also darin, dass es zum einen darum geht, einem „Befehl nachzukommen“, zum anderen um das Wahrnehmen der Balance. So wie jedes Menschkind lernt auf seinen zwei Beinen beim Gehen, Laufen und Springen seine Balance zu halten, so lernt auch das Fohlen mit dem eigenen Gleichgewicht umzugehen. Allerdings sind beim Reiten zwei Lebewesen an der Balance beteiligt: auf der einen Seite der Mensch, auf der anderen Seite das Pferd. Deshalb ist es erst einmal Sache des Reiters zu lernen mit seiner eigenen Balance bewusst (!) umzugehen, um Teil des Pferdes zu werden. Man kann das durch Kurse z. B. in der Alexandertechnik, durch die Franklin-Methode oder in Feldenkrais-Kursen schulen.
Wir selbst können uns selbst nur sehr eingeschränkt beobachten, weshalb ein neutraler Beobachter sehr hilfreich sein kann. Es ist Aufgabe des Reiters sich, bzw. seine körperlichen Aktionen auf dem Pferd so zu schulen, dass sie tatsächlich eine Hilfe für das Pferd sind. Das heißt aber nicht, dass ein Pferd zwangsweise z. B. der Balance folgt. Ein angespanntes, verspanntes Pferd ist immer auch ein widersetzliches Pferd. Dieses Thema soll einem eigenen Blog-Eintrag vorbehalten bleiben.
Fehlt das Körpertraining des Reiters, wirkt das Reiten hölzern, auswendig gelernt. Fehlt die Konditionierung, bleibt das Reiten im „Unbestimmten“ stecken.
In diesem Sinne ist Reitunterricht eigentlich nichts anderes, als dem Pferd und dem Reiter den jeweils anderen erfahrbar und verstehbar zu machen. Es ist Aufgabe des Reitlehrers dem Schüler eine Rückmeldung darüber zu geben, warum das Pferd zwar einen „Fehler“ macht, den der Schüler aber unwissentlich selbst veranlasst hat.
Es gibt übrigens noch andere Hilfen, die man bei der Bodenarbeit bzw. dem Longieren einsetzen kann: Wenn ein Mensch einen Schritt nach vorne geht, wird er unwillkürlich mit dem Anheben des Fußes seinen Oberkörper und seinen Kopf sanft nach vorne nehmen – das gleiche macht ein Pferd. Beide beginnen das Gehen mit einer sanften Balance-Verlagerung nach vorne. Oder anders ausgedrückt: Erst geht der „Kopf“, dann folgen die Beine. Umgekehrt: Wenn ein Mensch die Vorwärtsbewegung stoppt, wird er im Gegenteil seine Balance etwas zurücknehmen – genau wie ein Pferd. Wenn ein Mensch „abbiegt“ (abwendet) wird er seinen Oberkörper und seinen Kopf sanft in die Bewegungsrichtung wenden – wie ein Pferd.
Anders ausgedrückt: Ein Pferd kann die Körpersprache eines Menschen auch ohne lange Lernprozesse wahrnehmen und verstehen. Zumal Pferde sehr sensibel in der Wahrnehmung von Bewegungen sind. Allerdings, um das vorweg zu nehmen, die Körpersprache kann man nur vom Boden aus einsetzen. Man muss sie deshalb nach und nach als Vorbereitung auf das Reiten durch Stimmkommandos ersetzen.
Reisch, 20.02.22